Vom überrundeten Bahnläufer zum Europameister im Marathon

Geboren am 14. Oktober 1974, kürte sich Viktor Röthlin (STV Alpnach) am 1. August 2010 zum vierten helvetischen Leichtathletik-Europameister nach EM-Silber 2006 und WM-Bronze 2007. Der Swiss Athletics History Maker füllte damit die Lücke, die Weltmeister und Vize-Europameister André Bucher nach dessen Rücktritt im Frühjahr 2007 hinterlassen hat. 

Viktor Röthlin (Jahrgang 1974) und André Bucher (Jahrgang 1976) entstammen der gleichen Laufgeneration. Doch während sich Bucher nach Rang 188 an der Cross-WM 1996 auf die zwei Bahnrunden konzentrierte und 1998 in Budapest EM-Silber holte, ging Röthlin nach dem letzten Platz über 10 000 m – inklusive Überrundung – den umgekehrten Weg: von der Bahn auf die klassischste aller Langstrecken.

Sein Debüt über die mythischen 42,195 Kilometer gibt der ausgebildete Physiotherapeut bereits im Folgejahr beim Hamburg Marathon. Nach der ersten Zeit unter 2:11 Stunden in Berlin 2001 (2:10:54) greift Röthlin seinen eigenen Schweizer Rekord 2003 auch auf heimischen Boden an. Bei der Premiere des Zürich Marathons ist der Obwaldner aus Kerns der einzige, der mit dem Sieger Tesfaye Eticha mithalten kann.

Internationaler Durchbruch beim New York City Marathon
2004 – sprich: zehn Jahre vor der Heim-EM – klappts dann auch mit dem Rekordlauf in Zürich. Und nicht nur das: Angefeuert von zig Hobbyläuferinnen und Hobbyläufern, knackt Röthlin in der Limmatstadt erstmals die Schallmauer von 2:10 Stunden.

2005 macht sich der in den Bergen verwurzelte Weltenbürger auf in den Big Apple, auf in die «Champions League», wie Röthlin den New York City Marathon nennt. Der EM-, WM- und Olympiateilnehmer verkauft sich teuer im grössten Marathon der Welt, sammelt Läufer um Läufer ein und überquert die Ziellinie im Central Park als ausgezeichneter Siebter. Es ist der letzte Schritt zum Laufprofi.

Ab 2006 verfolgt Röthlin seine Medaillenziele und Rekordpläne konsequent, optimiert sein Umfeld und lässt kein Detail ausser Acht. Im Winter in Kenia, im Sommer im Engadin: Als einer der ersten Europäer trainiert der Innerschweizer zusammen mit den ostafrikanischen Wunderläufern, um von den Besten zu lernen. Ein weiterer wichtiger Mosaikstein bildet die Regeneration. Hier kann Röthlin seit Jahren auf die wertvollen Dienste seines Physiotherapeuten und Freundes Daniel Troxler zählen.

EM-Silber in Göteborg 2006
Über die 25 Bahnrunden schrammte Christian Belz als Vierter noch knapp am Podest vorbei. Im Marathon hingegen steht europäisch nur noch Olympiasieger Stefano Baldini eine Stufe über Viktor Röthlin.

2007 steht der EM-Silbermedaillengewinner erneut an der Startlinie des Zürich Marathons, bereit, den Schweizer Rekord mithilfe von Edelpacemaker Abraham Tandoi zum dritten Mal zu unterbieten. In 2:08:20 pulverisiert er seine alte Bestzeit um über eineinhalb Minuten.

Bei gänzlich anderen klimatischen Bedingungen, aber mit der gleichen Akribie wie in Zürich gehen Viktor Röthlin und seine Betreuer Daniel Brodard, Fritz Schmocker und Daniel Troxler in Japan zu Werke.   

WM-Bronze in Osaka 2007
Im langsamsten und wohl härtesten Marathon der WM-Geschichte hält sich Röthlin lange zurück. Bei Kilometer 30 liegt er an sechster Position. Während andere Läufer den 30 Grad Celsius und 80 Prozent Luftfeuchtigkeit reihenweise zum Opfer fallen, bleibt der Schweizer in Schlagdistanz zu einer Medaille. 

Halb im Delirium, halb im Angriffsmodus, vermag er auf den letzten zwei Kilometern noch drei Plätze gutzumachen und erreicht das Ziel dank einer mentalen Meisterleistung als Dritter. Als erst fünfter Swiss Athletics History Maker jubelt Röthlin über eine WM-Medaille und setzt sich im marathonverrückten Japan ein Denkmal.

Schweizer Rekord und Olympia-Diplom 2008
Knapp sechs Monate später kehrt der Schweizer Laufstar ins Land der aufgehenden Sonne zurück. Beim Tokio Marathon gelingt dem Perfektionisten ein Rennen nah an der Perfektion. Die letzten Verfolger nach 36 Kilometer abgeschüttelt, läuft Röthlin seinem grössten Sieg auf globaler Stufe entgegen. Damals noch ohne Carbon-Schuhe unterwegs, verbessert er seinen eigenen Landesrekord gegenüber dem Vorjahr nochmals um fast eine Minute auf hochkarätige 2:07:23 Stunden.

Nun darf er sogar von einer Olympiamedaille in Peking träumen. Letztere verpasst Röthlin als Sechster und bester Nicht-Afrikaner bloss um 35 Sekunden. Auch den Traum vom Europarekord muss er begraben.

Im Frühjahr 2009 erleidet er im Trainingslager in Kenia eine erblich bedingte Lungenembolie – mit schwerwiegenden Folgen. Seine Karriere als Marathonläufer hängt an einem seidenen Faden. Es folgen Wochen und Monate der Ungewissheit, doch Röthlin, ganz Marathonläufer, kämpft sich zurück und schreibt am Schweizer Nationalfeiertag ein veritables Sportmärchen.

EM-Gold in Barcelona 2010
Einmal mehr hat sich Viktor Röthlin perfekt auf das Hitzerennen vorbereitet. Mithilfe von Kühlpads in der Anfangsphase des Rennens und Liquid Ice an den Verpflegungsstellen versucht der Tüftler, die Körpertemperatur möglichst lange tiefzuhalten. Bei Kilometer 27 dann die Überraschung: Keiner kann dem Schweizer folgen. Röthlins erster Marathon seit zwei Jahren wird zum Triumphlauf, zur Wiederauferstehung, zum Comeback des Jahres.   

Doch nicht genug. Denn während sich Röthlins Wegbegleiter Christian Belz mit Rang 6 von der internationalen Bühne verabschiedet, läuft der Marathon-Europameister und Schweizer Halbmarathonmeister weiter bis zur Heim-EM 2014 in Zürich – mit einem Umweg über den Tokio Marathon (5./2:08:32) und die Olympischen Spiele in London 2012 (11./2:12:48), gefolgt vom Lake-Biwa-Marathon (8./2:10:18) und dem Jungfrau-Marathon 2013 (3./2:53:21).

Vor Eiger, Mönch und Jungfrau vertritt Röthlin die wieder erstarkte Berglaufnation um Europa- und Weltmeisterin Martina Strähl zwar nur einmal, aber er holt sich im Berner Oberland die nötigen Kletterfähigkeiten für seinen 27. und letzten Marathon.

Team-Bronze in Zürich 2014
Zehn Jahr nach seinem Sieg beim Zürich Marathon erlebt Titelverteidiger Röthlin den Abschied, den er verdient hat: Rang 5 vor einer grandiosen Kulisse und Bronze in der Teamwertung.

Im Stadion Letzigrund darf der 39-jährige Routinier seine letzte Medaille aus den Händen des damaligen OK- und Swiss Athletics Präsidenten Hansruedi Müller in Empfang nehmen und diese erst noch mit seinen Teamkollegen teilen, namentlich mit Tadesse Abraham, Christian Kreienbühl, Michael Ott, Patrick Wieser und Adrian Lehmann.

Es ist der Schlusspunkt einer glanzvollen Marathonkarriere – und zugleich der Startschuss zu einem beispiellosen Aufschwung der Schweizer Leichtathletik. Im und ausserhalb des Stadions. 

Link zum Podcast von Swiss Track Check mit Viktor Röthlin (Schweizerdeutsch) 

(sto)