Genau ein Jahrzehnt nach Cornelia Bürki (LC Rapperswil-Jona) und Sandra Gasser (STB) steht mit Anita Weyermann (GGB) 1997 wieder eine Schweizerin im WM-Final über 1500 m. Die damals erst 19-jährige Bernerin gewann nicht nur als erste Schweizer Leichtathletin eine WM-Medaille, sondern auch die Herzen der Fans.
Ihre Grossanlasstaufe erlebte Anita Weyermann schon 1996 an den Olympischen Spielen in Atlanta. Bei der 5000-m-Frauenpremiere stösst die Schweizer Rekordhalterin bis in den Final vor. An den Weltmeisterschaften 1997 in Athen, der Wiege der Olympischen Spiele, will die ehrgeizige Bernerin allerdings nicht mehr auf dem 14. Schlussrang landen. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Und genau diesen bahnt sich das 1,62 m kleine und 50 kg leichte Laufküken im Feld der weltbesten 1500-m-Läuferinnen frei, um mit den Beinen, Armen und dem Herzen die Bronzemedaille buchstäblich zu «erringen».
Legendäres Bonmot
Anita Weyermann, wie sie leibt und lebt. Eine Kämpfernatur, die immer alles gibt und – wenn es sein muss – ihren Willen auch mal untypisch schweizerisch durchsetzt. Kultstatus erlangt die erste helvetische WM-Medaillengewinnerin aber nicht durch ihre «Schwimmeinlage» in der griechischen Hitze des Gefechts, sondern durch ihr legendäres Interview direkt nach dem überstandenen Vorlauf: «Im Halbfinal gibts einfach nichts, da gilts einfach: Gring abe u vou seckle! Und dann hoffe ich, dass es reichen wird.»
«Gring abe u seckle!»: Mit diesem Spruch hat Anita Weyermann die Herzen der Fans im Sturm erobert. Ihre kecke, unbeschwerte Art macht das Berner Modi aus Gümligen zu einem Liebling des Schweizer Sports, zu einer Leistungs- und Sympathieträgerin, die kein Blatt vor den Mund nimmt und stattdessen frisch von der Leber weg plaudert.
Auf WM- folgt EM-Bronze
Dass der Gewinn der WM-Bronzemedaille keine Eintagsfliege war, beweist Anita Weyermann 1998 an den Kontinentaltitelkämpfen in Budapest. Kurz vor André Buchers Silberlauf über 800 m legt die Maturandin ihre sportliche Reifeprüfung ab: EM-Bronze hinter der russischen Doppelolympiasiegerin Svetlana Masterkova und der portugiesischen Weltmeisterin Carla Sacramento.
So erfrischend ihre Erscheinung war, so sprunghaft und unstetig verläuft Weyermanns Karriere. Top oder Flop. Medaille oder Letzte. Weltklasse oder verletzt. Aus der jungen, ungestümen Powerfrau sprudelt eine Energie, die ihre Trainer und Betreuer in der Gymnastischen Gesellschaft Bern und bei Swiss Athletics bisweilen verzweifeln lässt.
Immer noch vierfache Rekordhalterin
Einzig ihrem Vater Fritz Weyermann gelingt es, den Bewegungsdrang der Tochter einigermassen zu bändigen oder zumindest in geordnete Bahnen zu lenken. Zu Weyermanns Highlights gehören die bis heute unerreichten Schweizer Rekorde über 1500 m (3:58,20), die Meile (4:23,92), die 3000 m (8:35,83) und 5000 m (14:59,28), alle aufgestellt zwischen 1996 und 1999.
Unvergessen Weyermanns Auftritt bei Weltklasse Zürich 1999, als die einstige Vorprogrammstarterin zum zweiten Mal in ihrer Laufbahn unter den magischen vier Minuten bleibt und das Publikum im ausverkauften Letzigrund als Zweitplatzierte von den Sitzen reisst. Die vielseitig talentierte Schweizer Sportlerin des Jahres 1999, die noch bis zum ersten U20-WM-Titel 1994 FIS-Skirennen fuhr, hat ihre Spuren auf sämtlichen Terrains hinterlassen.
Erste Schweizer Europameisterin im Cross
Vier Tage nach ihrem 22. Geburtstag steht die zweifache Juniorenweltmeisterin über 1500 m und 3000 m erstmals auch im Crosslauf zuoberst auf einem internationalen Meisterschaftspodest.
Mit Rang 4 bei der Kurzcross-Premiere in Marrakesch 1998 erzielte Anita Weyermann das beste Schweizer Cross-WM-Ergebnis überhaupt. In Slowenien krönt sich die «Swiss Athletics History Makerin» zur ersten Schweizer Europameistermeisterin. Und das in einer Disziplin, in der Weyermann 1995 ihre nationale Titelpremiere vor keiner Geringeren als Daria Nauer (TV Länggasse) feierte.
Von Daria Nauer…
Die von Beat Aeschbacher und später von Fritz Schmocker betreute Langstreckenläuferin erlebte ihre Sternstunde 1994 an den Europameisterschaften in Helsinki. Als Aussenseiterin über 10 000 m angetreten, gewinnt Nauer hinter Olympiasiegerin Fernanda Ribeiro und Halbmarathon-Weltmeisterin Conceição Ferreira die Bronzemedaille in der immer noch gültigen Rekordzeit von 31:35,96 Minuten.
…bis Nicola Spirig
Übrigens: Bei den Juniorinnen ging Cross-EM-Silber 1999 an Nicola Spirig (LC Zürich). Die spätere Triathlon-Olympiasiegerin gewann in ihrer Altersklasse vor der Jahrtausendwende den WM-Titel im Duathlon sowie WM-Silber im Triathlon und war Europameisterin in beiden Sparten. Schon damals stand für die Zürcher Unterländerin aus Winkel fest, dass ihre Zukunft im olympischen Triathlon liegen würde. Nach Athen 2004, Beijing 2008, London 2012 und Rio 2016 bestreitet die dreifache Mutter in Tokio ihre fünften Spiele im Zeichen der fünf Ringe.
Anfang vom Ende
Für Anita Weyermann selbst wiegt der Cross-EM-Titel umso schöner, als sie zuvor einmal mehr von Verletzungen und Krankheiten gebremst wurde: An der Leichtathletik-WM in Sevilla musste sie sich nach einer Bänderverletzung durch einen Misstritt im Halbfinal mit dem letzten Finalplatz begnügen; zwei Wochen vor der Cross-EM erlitt sie eine Lebensmittelvergiftung.
Immer wieder fordert Weyermanns Körper seinen Tribut. Ihr letztes internationales Ausrufezeichen setzt sie bei Weltklasse Zürich 2000, als sie sich nach einem offenen Ellbogenbruch zusammen mit Sabine Fischer (LC Rapperswil-Jona) für die Sommerspiele in Sydney qualifiziert und an jenen Ort zurückkehrt, an dem sie 1996 Junioren-Weltmeisterin über 3000 m wurde, wobei sie als Titelverteidigerin über 1500 m mit einem Schuh noch auf Rang 7 lief…
2001 trägt sich die Dauerpatientin als erste Schweizer Rekordhalterin in die Liste der für Frauen neuen 3000-m-Hindernisdisziplin ein. Nach einer kaum endenden Odyssee an gesundheitlichen Rückschlägen beendet sie im Frühjahr 2008 ihre glanzvolle Karriere. Die begeisterte Ausdauersportlerin lässt es sich allerdings nicht nehmen, 2010 mit ihrem zukünftigen Ehemann am Jungfrau-Marathon zu starten.
Der Leichtathletik treu geblieben
Inzwischen Mutter von vier Kindern, darunter Drillingen, ist Anita Weyermann dem Laufsport und der Leichtathletik treu geblieben. Sie gibt Kindertrainings, leitet für Swiss Athletics Laufkurse und macht Bewegungsmenschen als Privatcoach Beine. Daneben arbeitet sie als Redaktorin beim Radio BeO. Das einstige Teenie-Idol verfolgt die aktuelle Schweizer Leichtathletik-Generation mit viel Freude am Bildschirm und im Stadion – und schmunzelt mitunter über die eine oder andere verlegene Interviewantwort…
Link zu Anita Weyermann im Gespräch mit Swiss Track Check
Link zum Buch «Frauenpower – die 30 prägendsten Schweizer Sportlerinnen der letzten 50 Jahre»
(u. a. Meta Antenen, Mujinga Kambundji, Lea Sprunger, Anita Weyermann, Franziska Rochat-Moser)
Link zu Franziska Rochat-Moser – Die Grande Dame des Marathonlaufs
(sto)