Mit elf internationalen Medaillen, 19 Schweizer Meistertiteln und 20 Rekorden, darunter ein Weltrekord in Magglingen, ist Werner Günthör der erfolgreichste Schweizer Leichtathlet der Geschichte. Den zweiten Freiluft-WM-Titel in Tokio 1991 konnte man am wenigsten erwarten. «Im Land der aufgehenden Sonne ging auch Günthörs Stern wieder auf», wie das Swiss Athletics Magazin vor zehn Jahren schrieb. Wir haben den Artikel passend zu den Olympischen Spielen an gleicher Stätte wieder aufgefrischt.
Perfekte Organisation, ausserordentlich nette, aber zurückhaltende Menschen. Menschen, die geduldig auf ein Autogramm warten – in Einerkolonne. Und, ach ja, schwüles Klima. So schwül, dass der Schweiss aus allen Poren troff. Blickt Werner Günthör auf den Grossanlass in Japan zurück, hat er vor allem solche Bilder vor Augen. 1991 fanden die Welttitelkämpfe in der Hauptstadt Tokio statt, und Günthör gehörte neben Sprinter Carl Lewis und Weitspringer Michael Powell (beide Weltrekord) zu den 29 Goldmedaillengewinnern. Für den damals 30-jährigen Athleten des LC Zürich war es der zweite von drei Weltmeistertiteln in Folge, nachdem er sich die Krone bereits 1987 in Rom hatte aufsetzen lassen. Ein Kunststück das vor und nach ihm nur noch einem Schweizer Leichtathleten gelang: André Bucher, 2001 in Edmonton.
Ein Riesencomeback
Doch zurück zu Günthör, zurück nach Japan. Obwohl als Hallen-Weltmeister angetreten: Erwarten konnte man seinen Sieg nicht. Im Winter 1989 hatte sich der dreifache Schweizer Sportler des Jahres bei einem Abstecher in die Bobszene schwer verletzt. Diagnose: Bandscheibenvorfall. Seine Karriere hing an einem seidenen Faden. 1990 folgten Operation und eine Partnerschaft mit einem Wasserbetthersteller. 1991 gab Günthör sein Comeback.
Ein Riesencomeback, und zwar sprichwörtlich. Mit 128 Kilogramm, verteilt auf zwei Metern Länge, verkörperte er den grossen, kräftigen Mann. Kein Wunder, erstarrte manch kleinwüchsiger Japaner vor Ehrfurcht. Ausserhalb des Rings erwies sich «Kugel-Werni» indes als sanftmütiger Riese. Ein Riese, der «im Grossen und Ganzen» alles richtig gemacht hat.
«History Maker-Maker» Werner Dietrich und Jean Pierre Egger
Schon als kleiner Junge warf Werner Günthör, aufgewachsen im Thurgauischen Uttwil, die Steine am Bodenseeufer weiter als all seine Kollegen. Entdeckt und gefördert wurde er von Trainerlegende Werner Dietrich. Günthörs Vielseitigkeit und für derartige «Kolosse» geradezu stupende Athletik waren sein Trumpf.
Ehe ihn sein Vorbild und späterer Mentor Jean-Pierre Egger zum Kugelstossen überredete, machte er als Junioren-Speerrekordhalter (71,72 mit dem alten Speer) auf sich aufmerksam. Den Diskus schleuderte er 1985 auf 54,48 m und als beim Länderkampf gegen Holland 1988 in Hengelo der Schweizer Hochspringer ausfiel, sprang Günthör nicht nur in die Bresche, sondern zwei Meter hoch (seine persönliche Bestleistung steht bei 2,02 m).
Das fehlende Olympiagold
«Klar, hätte man im Detail noch einige Dinge verbessern können», sinniert Günthör, der mit 22,75 m, 1989 erzielt in Bern, immer noch in den Top Ten der ewigen Weltbestenliste figuriert. Dem Olympiatitel etwa, dem ersten eines Schweizer Leichtathleten überhaupt, trauerte er lange nach. Es hat nicht sollen sein. 1984 in Los Angeles wurde der Wahl-Berner, damals noch beim STB, Fünfter, acht Jahre später in Barcelona Vierter (zermürbt durch eine Kampagne des deutschen Nachrichtenmagazins «Der Spiegel» kurz vor dem Wettkampf).
Am nächsten dran war Günthör 1988 in Seoul, als er mit 21,99 m die bronzene Auszeichnung gewann. Im Unterschied zur Gegenwart fristete Kugelstossen noch kein Randsportartendasein. Die Disziplin wurde von den Medien zum «Kampf der Titanen» stilisiert, exzellent vermarktet als sportliche Schlacht zwischen dem «guten» Westen und dem «bösen» Osten. Dass sich in diesem Umfeld ein «neutraler Schweizer» zu behaupten vermochte, war für die islamische Republik Mauretanien sogar Anlass, Günthör 1988 eine Briefmarke zu widmen – lange bevor der hiesige Run auf Roger Federers Konterfei losging.
Rücktritt auf dem Höhepunkt
Den ersten Leistungszenit hatte Werner Günthör da bereits erreicht. Den zweiten leitete er in Tokio ein. Noch zwei Jahre Spitzensport gaben ihm die Ärzte nach der Operation. Es sollten drei werden. «Ich wollte stets auf dem Höhepunkt abtreten, das konnte ich nicht nach dem vierten Platz in Barcelona.» 1993 in Stuttgart war es so weit, der Kreis geschlossen: Im Neckarstadion hatte Günthör seine internationale Karriere 1986 mit dem EM-Titel und ersten 22-m-Stoss lanciert, sieben Jahre später beendete er sie mit dem dritten WM-Titel in Serie.
Eine ruhige Kugel schieben mochte Werner Günthör in der Folge nicht. Nach dem Diplom als Sportlehrer und Spitzensporttrainer von Swiss Olympic betätigte er sich während vier Jahren als Nationaltrainer «Wurf» beim Leichtathletik-Verband. Gleichzeitig kümmerte er sich um die Ausbildung innerhalb des Bundesamts für Sport (BASPO), wobei sein technisches Wissen zwischenzeitlich auch beim Schweizer Fernsehen gefragt war. Heute organisiert der bald 60-Jährige Führungen und Events in Magglingen und nimmt diverse Repräsentationsaufgaben wahr.
Und welchen Ratschlag würde der erfolgreichste «Swiss Athletics History Maker» der nächsten Generation mitgeben? «Das Wichtigste ist, dass man Spass hat an der Sache, seinen eigenen Weg geht und sich über die persönlichen Fortschritte freut, statt sich immer mit den anderen zu vergleichen.»
Link zu «Werner Günthör – La ruée vers l’or d’un colosse»
(Die vollständige Biographie von Pierre-André Bettex auf Französisch)
Link zu Jean-Pierre Egger im Gespräch mit Swiss Track Check
(sto)