Darf man die 1980er Jahre als «goldenes Zeitalter» der Schweizer Leichtathletik bezeichnen, so brauchen sich auch die 1990er Jahre nicht zu verstecken. Zu Beginn des Jahrzehnts gehört die Bühne Werner Günthör, Anita Protti, Sandra Gasser und Julie Baumann, doch die nächste Generation um Mathias Rusterholz, Daria Nauer, Anita Weyermann, Franziska Rochat-Moser, Marcel Schelbert und André Bucher steht bereit. Hier die Zusammenfassung der wichtigsten Ereignisse der Jahre 1991 bis 2000.
Highlights 1991
Werner Günthör (ST Bern) und Anita Protti (Lausanne-Sports) setzen die Tradition an den Hallen-Weltmeisterschaften in Sevilla fort. Der Ostschweizer, der seit September 1989 keinen Wettkampf mehr bestritten hat, kehrt mit dem Gewinn des Hallenweltmeistertitels im Kugelstossen mit 21,17 m in die Weltspitze zurück, während die Westschweizerin über 400 m mit starken 51,41 m Bronze holt. Am gleichen Wochenende verbessert Hansjörg Brücker (LC Stein Baden) in Los Angeles den Marathonrekord mit einer Zeit von 2:11:10 um zwei Sekunden. Im Sommer bricht Markus Trinkler (Hochwacht Zug) bei Weltklasse Zürich den nationalen Rekord über 800 m mit ausgezeichneten 1:45,24 Minuten, während die Ex-Kanadierin Julie Baumann-Rocheleau (LC Zürich) den Rekord über 100 m Hürden viermal von 13,07 auf 12,76 Minuten verbessert. An den Weltmeisterschaften in Tokio gelingt es Werner Günthör (LC Zürich), seinen 1987 in Rom errungenen Weltmeistertitel mit einem Wurf von 21,67 m zu verteidigen. Über 400 m Hürden läuft Anita Protti zur Höchstform auf und wird mit einem hervorragenden Schweizer Rekord von 54,25 Sechste. Die beiden Stars der Schweizer Leichtathletik sind die logischen Sieger bei der Wahl zum Schweizer Sportler des Jahres.
Highlights 1992
Unter dem Hallendach ist Martha Grossenbacher (TV Unterstrass) mit Schweizer Rekorden über 50 m in 6,32 und über 60 m in 7,27 Sekunden so schnell wie noch nie. Auch Julie Baumann glänzt über 60 m Hürden mit 7,95, verpasst aber an den Hallen-Europameisterschaften in Genua den Final. Im Frühjahr absolviert Franziska Moser den Marathon in Paris in 2:33:09 und unterbietet den Rekord von Gaby Andersen-Schiess um 16 Sekunden. Auf der Sprintstrecke regiert das Zürcher Duo vom Diners Track Club, Stefan Burkart und David Dollé. Der Meister legt mit einem Schweizer Rekord von 10,32 in Lausanne vor, doch der Schüler zieht mit zwei 10,30-Zeiten in La Chaux-de-Fonds und Meilen nach. Von den 16 Athleten, die an den Olympischen Spielen in Barcelona starten, kann nur Werner Günthör von sich behaupten, Medaillenambitionen zu hegen. Obwohl alles auf einen Olympiasieg hindeutet, muss der sanftmütige Riese, wie schon zwei Jahre zuvor, eine Kampagne des «Spiegel» über sich ergehen lassen. Im Kugelstossfinal verpasst der Thurgauer den Sprung aufs Podest und wird mit 20,91 m Vierter.
Highlights 1993
Die Schweizer Delegation kann sich an den Hallen-Weltmeisterschaften in Toronto über zwei weitere Podestplätze freuen: Julie Baumann gewinnt den Weltmeistertitel über 60 m Hürden mit einer Zeit von 7,96 und Sandra Gasser (ST Bern) Bronze in einem epischen Rennen über 1500 m (sie stürzt vor der Ziellinie und rettet die Medaille mit einer Hechtrolle). An den Schweizer Staffelmeisterschaften in Lausanne kommt es zu einem spannenden Duell zwischen dem LC Zürich und Stade Genève, das in 39,32 mit einem beeindruckenden Schweizer Vereinsrekord für den LCZ endet. David Dollé, der Leader dieses LCZ-Teams, senkt in Meilen seine Zeiten auf 10,25 über 100 m und 20,43 über 200 m. An den Weltmeisterschaften in Stuttgart erreicht die 4x400m-Staffel der Frauen (Helen Burkart/Regula Zürcher/Marquita Brillante/Katrin Lüthi) eine hervorragende Endzeit von 3:28,52. Werner Günthör beendet seine Karriere als Favorit im Kugelstossen und gewinnt mit einem Wurf von 21,97 m seinen dritten Weltmeistertitel in Folge. In der Deutschschweiz liebevoll «Kugel-Werni» genannt, wird der dreifache Sportler des Jahres für immer einer der bekanntesten und erfolgreichsten Sportgrössen des Landes sein.
Highlights 1994
Die Saison beginnt auf der Strasse in Mailand mit einem Schweizer Rekord von Hansjörg Brücker im Halbmarathon mit 1:03:31. Im September in Oslo gelingt es Arnold Mächler (TV Wägital), diese Zeit um eine weitere Sekunde zu senken. Über 10 km glänzt Daria Nauer (TV Länggasse) in Vancouver mit 32:55 Minuten, ehe sie es auf der Bahn krachen lässt: Schweizer Rekord über die 5000 m in Berlin mit 15:13,93. Den Höhepunkt erreicht die Bernerin an den Europameisterschaften in Helsinki, wo sie im 10 000-m-Lauf die Bronzemedaille in der immer noch gültigen Rekordzeit von 31:35:96 Minuten gewinnt. Ebenfalls in Helsinki meistert Mathias Rusterholz (TV Herisau) seine 400-m-Läufe perfekt und verdient sich in 45,96 Sekunden – wie Nauer – die Bronzemedaille. Am Ende der Saison läuft Franziska Moser den Halbmarathon in Uster in 1:11:38 und pulverisiert dann den Schweizer Marathonrekord, den Elisabeth Krieg (TV Länggasse) im vergangenen Mai in Hannover um acht Sekunden unterboten hat. Mit einer Zeit von 2:27:44 in Frankfurt etabliert sich die STB-Athletin als eine der besten Läuferinnen der Welt über diese legendäre Distanz.
Highlights 1995
Zur Hälfte des Jahrzehnts rücken die Sprinter ins Zentrum. Über 100 m trommelt David Dollé in Jona eine Zeit von 10,22 auf die Bahn. Anschliessend stürmt er in La Chaux-de-Fonds in 10,16 zum Schweizer Rekord. An diesem Tag im Charrière-Stadion erzielen etliche Schweizer Sprinter Bestleistungen, darunter Kevin Widmer (Stade Genève), der in 10,24 über 100 m gestoppt wird und mit 20,41 einen Schweizer Rekord über 200 m aufstellt. Auf der Bahnrunde wird Mathias Rusterholz immer stärker; in 45,24 lässt er Marcel Arnold (LCZ) in Bellinzona um zwei Hundertstel hinter sich. Der Appenzeller ist auch der «Anchor Man» der 4x400m-Staffel an den Weltmeisterschaften in Göteborg. Zusammen mit Laurent Clerc (Stade Genève), Kevin Widmer und Alain Rohr (TV Länggasse) realisiert «Rusti» in 3:03,91 einen vielversprechenden Schweizer Rekord. Bei den Frauen belegt Julie Baumann einen glänzenden fünften Platz über 100 m Hürden in 12,95 m, während Sieglinde Cadusch (TV Unterstrass) in Marietta den Schweizer Rekord im Hochsprung auf 1,95 m schraubt.
Highlights 1996
Im Jahr des olympischen 100-Jahr-Jubiläums sticht ein Mann heraus: Mathias Rusterholz. Seinen Leistungszenit erreicht er bei Athletissima Lausanne, wo er den eigenen Schweizer Rekord über 400 m knapp unter 45 Sekunden (44,99) fixiert. An den Olympischen Spielen in Atlanta setzt die 4×400-m-Staffel ihren Höhenflug in der gleichen Besetzung wie in Göteborg fort und erzielt eine Zeit von 3:03,05. In Atlanta führt Julie Baumann die Nationalmannschaft weiterhin an, aber ihre 12,86 über 100 m Hürden reichen nicht für den Einzug ins Finale. Viersprechend sind die Youngsters André Bucher (LR Beromünster/20 Jahre) in 1:46,41 über 800 m und vor allem Anita Weyermann (GG Bern/19 Jahre), die nach den 5000 m in Rom in 14:59,28 als einzige Olympiafinalistin den 14. Platz in 15:19,91 erreicht. Zum Abschluss der Strassensaison verbessert Stéphane Schweickhardt (CABV Martigny) in Palma de Mallorca den Halbmarathonrekord um 41 Sekunden auf 1:02:49, während seine Kantonskollegin Ursula Jeitziner (TV Naters) beim Halbmarathon in Breda in 1:10:31 den nationalen Rekord von Moser um mehr als eine Minute unterbietet.
Highlights 1997
Die Weltmeisterschaften in Athen bilden das Hauptziel für die Schweizer Athleten, aber nur sechs können sich qualifizieren. Anita Weyermann ragt wieder heraus und läuft souverän gegen die Weltelite über 1500 m. Ihr jugendlicher Leichtsinn, kombiniert mit einem im Laufsport selten gesehenen Durchsetzungswille, ermöglicht es ihr, im Alter von 20 Jahren eine WM-Bronzemedaille in 4:04,70 zu gewinnen. Ebenfalls eine Finalklassierung erläuft sich Franziska Rochat-Moser als Achte im Marathon. In der Folge verbessert Anita Weyermann bei Weltklasse Zürich mit 8:37,69 den Schweizer Rekord von Cornelia Bürki über 3000 m um eine Sekunde. Die andere grosse Überraschung des Abends ist der Schweizer Rekord über 400 m Hürden von Marcel Schelbert (LC Zürich) in 49,38, eine Leistung, die er zwei Wochen später in Catania mit 49,33 bestätigt. Zum Abschluss der Saison erreicht Stéphane Schweickhardt beim Halbmarathon in Kosice eine Rekordzeit von 1:01:26. Für die grösste Sensation des Herbstes sorgt jedoch Murtenlaufsiegerin Franziska Rochat-Moser mit ihrem grandiosen Triumph beim prestigeträchtigen New York City Marathon in 2:28:43.
Highlights 1998
Auch wenn die Schweizer Leichtathleten bei internationalen Hallenwettkämpfen nicht mehr glänzen, so fallen doch einige Indoor-Rekorde, wie die 20,99 von Kevin Widmer über 200 m, die 7,69 von Raphaël Monachon (CA Courtelary) über 60 m Hürden sowie die 22,96 von Mireille Donders (TV Länggasse) an den Hallen-Europameisterschaften in Valencia. Im Sommer ist es die Europameisterschaft in Budapest, die die meiste Aufmerksamkeit auf sich zieht. Im 800-m-Lauf beweist André Bucher sein Talent und gewinnt in 1:45,04 Minuten die Silbermedaille. Anita Weyermann bestätigt mit Bronze über 1500 m, dass sie zu den Besten gehört, während die 4×400-m-Männerstaffel mit einem fünften Platz in der Rekordzeit von 3:02,91 Minuten stärker denn je auftritt. An den Schweizer Meisterschaften in Frauenfeld verbessert Raphaël Monachon den Schweizer Rekord über 110 m Hürden um sechs Hundertstel auf 13,68. Bei den internationalen Meetings schliesslich stellt André Bucher in Zürich in 1:44,96 einen hervorragenden Schweizer Rekord über 800 m auf, während Anita Weyermann zwei bis heute gültige Rekorde auf die Bahn zaubert: in Bellinzona mit 4:23,92 über die Meile und dann 3:58,20 in Monaco über 1500 m, eine internationale Spitzenzeit.
Highlights 1999
Anita Weyermann und André Bucher setzen ihre Erfolgsgeschichte fort. Im Winter wird die Bernerin in Velenje Crosslauf-Europameisterin und verbessert dann in Rom mit 8:35,83 Minuten ihren nationalen Rekord über 3000 Meter um fast zwei Sekunden. Es folgen 4:24,32 Minuten in Nizza über die Meile und 3:59,82 Minuten in Zürich über 1500 m. Auch der Luzerner ist nicht zu stoppen; in Langenthal läuft er in 2:15,66 Minuten einen 1000-Meter-Rekord, gefolgt von zwei Spitzenleistungen über 800 Meter: starke 1:44,27 Minuten in Oslo und fabelhafte 1:42,92 Minuten in Brüssel. Dieses Mittelstrecken-Duo wird durch Marcel Schelbert ergänzt. In Palma de Mallorca startet der Zürcher seine atemberaubende Entwicklung über 400 m Hürden mit Zeiten von 48,89 und 48,77, um dann bei Weltklasse Zürich in 48,52 zu glänzen. In der Tat haben wir noch nichts gesehen, denn im WM-Final von Sevilla ergattert sich Schelbert dank einer unglaublichen Aufholjagd auf der Zielgeraden die Bronzemedaille in 48,13 Sekunden! Seine Klasse kommt auch der 4×400-m-Staffel zugute, die mit 3:02,46 Minuten einen Schweizer Rekord aufstellt. Weitere Leistungen verdienen eine Erwähnung: die 6,60 des Genfers Cédric Grand über 60 m in der Halle, die 3:35,87 von Peter Philipp (BTV Chur) über 1500 m und die 13,61 von Ivan Bitzi (LV Horw) über 110 m Hürden. Auf der Strasse schließlich läuft Franziska Rochat-Moser den Boston-Marathon in 2:25:51; leider ist diese Point-to-Point-Strecke wegen des zu grossen Höhenunterschieds nicht homologiert.
Highlights 2000
Die Millenium-Saison beginnt mit Alain Rohrs fantastischem Indoor-Rekord von 45,92 über 400 m. Im olympischen Jahr ruhen alle Medaillenhoffnungen auf den Schultern von André Bucher. Mit einer Zeit von 1:14,96 über 600 m, 1:43,12 über 800 m und 2:15,73 über 1000 m ist der Luzerner bereit für die Spiele in Sydney. Im 800-m-Final sind noch 200 m zu absolvieren und alles scheint perfekt zu laufen – bis der Italiener Andrea Longo den Ellbogen ausfährt und den Schweizer aus der Bahn wirft! Bucher versucht, auf der Zielgeraden noch einmal zurückzukommen, doch vergeblich: Er beendet das Rennen auf dem fünften Platz, 32 Hundertstel vom Olympiasieg entfernt. Seine Wahl zum Schweizer Sportler des Jahres macht die Enttäuschung nicht ganz wett, doch der Swiss Athletics History Maker wird 2001 stärker zurückkommen denn je. Sabine Fischer (LC Rapperswil-Jona), die mit 4:05,14 bei Weltklasse Zürich grosse Fortschritte gemacht hat, wird Olympianeunte über 1500 m. Auf Schweizer Boden pushen sich die Hürdensprinter gegenseitig zu Landesrekorden: Paolo Della Santa (SFG Bellinzona) mit 13,55 in Zofingen und Raphaël Monachon mit 13,48 in Freiburg.
(PAB)